Meer in Sicht!

Nun komme ich dem Ziel immer näher. Das Meer ist schon fast greifbar und unter mir liegt Ventimiglia. Noch 30 km Fußmarsch. Ein Klacks im Gegensatz zu dem, was ich schon geleistet habe. Vor mir erstrecken sich nur noch Hügel. Die Berge liegen nun endgültig hinter mir. Was für ein Gefühl! Vor mir sind nur noch ein paar bewaldete Hügel, dahinter schimmert das Meer und in der Ferne ist sogar Korsika recht gut zu sehen. Hier enden also die Alpen! Vier Monate lang habe ich nur Berge gesehen und nun ist vor mir nichts mehr. Nur noch Wasser! Die Vorfreude steigt von Tag zu Tag. Ich will nur noch ankommen und ins Meer springen. Ein wenig Schwermut und Trauer ist auch schon dabei. Heißt doch das Ankommen gleichzeitig auch Abschied nehmen. Abschied von so einer wunderbaren Zeit! Doch viel länger dürfte der Weg nicht sein. Die Saison geht zu Ende und es ist Herbst geworden. Mein Körper zeigt mir nun immer öfter, dass es langsam Zeit wird, anzukommen. Seit dem Monvisogebiet kränkel ich fast wöchentlich. Ich erhole mich glücklicherweise immer sehr schnell, doch die Tage, an denen ich mich vorwärts kämpfen muss, nehmen zu. Und dann, beim Abstieg nach Limone, plötzlich ein stechender Schmerz in meinen linken Oberschenkel. So ein Mist! Nicht das auch noch! Nach ein paar Schritten nochmal. Das darf doch nicht wahr sein. Wahrscheinlich irgendeinen Muskel gezerrt. Nicht so knapp vor dem Ziel (an diesem Punkt noch 7 Etappen)! 

Langsam und ohne Gepäck, das mir liebenswerterweise abgenommen wird, geht es hinunter zum Albergo.


Für den nächsten Tag steht von Limone zum Rifugio Garelli eine 'Königsetappe' von etwa neun Stunden an. Und da ich diese Etappe wohl wieder alleine gehen werde, eine dumme Situation. Mein Oberschenkel hat sich zum Glück etwas beruhigt. Doch was ist, wenn wieder was passiert? Die Etappe ist sehr lang und es könnte sein, dass ich niemanden treffe. Also muss eine Alternative her. So geht es zuerst mit Bus und Bahn ab in die Poebene nach Cuneo. Eine große Stadt! Aber wenigstens hat es hier auch eine Buchhandlung. Diese ist voll gestopft mit Eltern und ihren Kindern, die Schulbücher kaufen. Nach langem Suchen finde ich die passenden Wanderkarten für die letzten Etappen. Ich weiß nicht, wie es mit meinem Oberschenkel weiter gehen wird. Auf dem GTA nach Ventimiglia gibt es keine Möglichkeit mehr, mit öffentlichen Verkehrsmitteln weg zu kommen. Ich brauche eine Karte, um eventuell kürzere Alternativen zu finden und im größten Notfall aussteigen zu können. Aber eigentlich zählt nur noch eines: anzukommen. Egal wie! Hauptsache, das Ziel erreichen! 
Mit dem Bus geht es nach San Bartolomeo. Von dort aus steige ich zur Hütte auf. Es ist total neblig. Aussicht habe ich keine. Immer wieder kommen Tagesgäste entgegen. Der Aufstieg klappt gut. Ich habe keine Schmerzen. Das gibt mir wieder Mut. An der Hütte treffe ich die beiden Iren und vier Allgäuer, die nun das gleiche Ziel wie ich haben. Alle samt ziemlich erschöpft von der langen Etappe. Da war ich mit meiner kurzen Tour die fitteste. 

Am nächsten Tag geht es das letzte Mal durch richtig alpine Gelände. Das Karstgebiet sieht etwas aus wie in den Dolomiten. Steile schroffe Berge ragen über flache grüne Wiesen auf. Ein wirklich schöner Abschnitt.  Nach einem langen eher flachen Abschnitt geht es nun sehr steil bergab. Und wer meldet sich da mit großer Begeisterung wieder: mein Oberschenkel! Langsam und mühsam geht es nach Carnino Inferiore in die gemütliche kleine Foresteria. Hier werden wir bestens versorgt. Riesige Mengen werden zum Abendessen aufgetischt. Obwohl es der letzte Tag der Saison ist. War ich am Anfang der erste Gast, so sind wir jetzt die letzten für dieses Jahr.

Auch in Monesi diTriora sind wir die letzten Gäste. Allerdings nicht nur für diese Saison, sondern erstmal für unbegrenzte Zeit. Letzten November hat eine Schlammlavine ein paar Häuser des Nachbardorfes vollständig zerstört. Und auch die Straße dorthin und die Brücke nach Monesi di Triora. Das Albergo ist seitdem abgeschnitten. Die Hotels und Bungalows drum rum scheinen schon komplett verlassen. Das Skigebiet ist nicht mehr in Betrieb. Wir sind die letzten, die in diesem Ort übernachten werden. Mit dem Verlassen der Pächter des Albergos wird dieser Ort wie viele anderen zur Geisterstadt. Eine bedrückende Vorstellung! Wo doch schon so viel leer steht!

Mit dem Verlassen des Piemont und dem Eintritt nach Ligurien, habe ich nun fast den ganzen Original GTA geschafft. Bis auf zwei Etappen. Nun wechselt man auf den ligurischen Höhenweg bis nach Ventimiglia.  

Mit dem Monte Saccarello erreichen wir den höchsten Berg Liguriens und den letzten 2000er auf meiner Tour. Von nun an geht es immer nach Süden auf das Meer zu. Mittlerweile kann ich es nicht nur erahnen, sondern deutlich sehen. Die Berge hören auf. Aus Bergen werden Hügel. Vor uns liegt Ventimiglia und in der Ferne sogar Korsika.

Nun sind es noch zwei Tage bis ans Meer. Wie ich mich darauf freue!